Laerm: Anwohner wünschen Glocken zum Teufel (09-09-2009)

Am morgendlichen Geläut der Kirchenglocken scheiden sich die Geister. Immer häufiger müssen Richter entscheiden, ob es sich bei den Glockenschlägen um Lärmbelästigung oder eine erhaltenswerte abendländische Tradition handelt.

«Erlöse uns vom Glockenlärm!» – «Wir brauchen weder einen kirchlichen Frühweckdienst noch ein lärmiges Betsignal!» – «Die meisten Kirchenglocken der Welt haben einen scheppernden Klang. Wir in den USA verwenden längst Leuchtschriften an den Kirchen.»
Kirchenglocken.ch: Diese Homepage vereint die Gegner der alten Klänge. Die Stimmen sind deutlich, der Zorn ist gross. Immer häufiger sind Behörden mit Einzelklagen konfrontiert, die das Geläut der Glocken zum Teufel wünschen.

Ist Lärm gleich Lärm?  Auf zehn Meter Distanz haben Kirchenglocken mitunter dieselben Messausschläge wie ein Lastwagen: rund 100 Dezibel. Zum Vergleich: Grillen können locker 60 Dezibel erzirpen. Ein zorniger Hund kläfft sich auch mal auf 80 Einheiten hoch. Menschlicher Small Talk pflegt sich um die 50 Dezibel einzuspielen. Ob ein Geräusch aber stört, entscheiden nicht Messwerte, sondern allein das subjektive Empfinden.

Karin Kräuchli, Städterin, hatte Sehnsucht nach ländlicher Stille. Nur: Ihre neue Wohnung befand sich knapp 50 Meter vom Kirchturm von Buchs ZH entfernt. Und dieser, 350 Jahre älter als Kräuchlis Stockwerkeigentum, schmetterte in unbekümmerter Regelmässigkeit um halb sechs in der Früh seinen Weckruf ins Gelände. Ein Schlag «von harter Klangart und erheblicher Intensität», wie die Baukommission befand. Vermittlungsversuche fruchteten nichts. Karin Kräuchli reichte Klage ein: Der Kirchgemeinde sei «unter Strafandrohung zu gebieten», dieses Geläut zu streichen. Die Einwohnerschaft von Buchs sei kaum mehr in der Landwirtschaft tätig; «man schläft hier um halb sechs». Sie bekam Recht. Das Zürcher Verwaltungsgericht qualifizierte den kirchlichen Weckruf 1995 als «Lärm», der «nicht zu tolerieren» sei.

Eine Glocke ist laut dem «Lexikon für Theologie und Kirche» ein «Klanginstrument von weittragender Lautstärke». Deren Tonhöhe ist abhängig von Grösse und Gewicht. In den christlichen Kirchen sind meist mehrere Glocken zu einem Geläut vereinigt. Darunter versteht man ein Zusammenspiel von drei bis zehn Glocken unterschiedlicher Tonhöhe. Der Klang ist in einer Reichweite von bis zu fünf Kilometern vernehmbar.

In der Schweiz gibt es eine Fülle von tontiefen, weittragenden Glocken. «Die Kirchtürme sind hier im Durchschnitt eher niedrig», sagt Glockenfachmann Matthias Walter. «Vor allem in der Ostschweiz hängen oft riesige Geläute. Diese Glocken sind viel zu nah am Publikum. Der angemessene akustische Raum fehlt.»

Glocken begleiten das ganze Leben Frieden in Urnäsch AR: Der Konflikt ums Frühgeläut legte sich, als ein altes Dokument auftauchte. Bereits vor einem halben Jahrhundert war das Geläut verschoben worden – damals von vier auf fünf Uhr. 2001 konnte es getrost noch eine Stunde später ertönen. 24 Stunden schlagen Urnäschs Glocken alle 15 Minuten. Im Weiteren erklingen: das Morgenläuten, das Elf-Uhr-Läuten, die Vesper, das Dämmerungs- und zum Schluss das Abendläuten. Glocken künden von den elementaren Ereignissen des Lebens: von der Taufe, vom Tod, von Beginn und Ende des Tages. Glocken begleiten Wallfahrten, Prozessionen, Hochzeiten.

Sind sie am Ausklingen, die alten Töne? Das samstägliche Läuten auf Schweizer Radio DRS1, die «Glocken der Heimat», dauerte einst zehn Minuten. Heute sind es noch fünf. «Über Jahrzehnte war eine Aufnahmeequipe zu den verschiedensten Kirchen der Schweiz gereist», so Radioredaktor Georges Wettstein. «Wo nötig, hielt die Sekretärin das Postauto auf, um störende Geräusche zu vermeiden.» Die Budgetschwerpunkte von Radio DRS liegen heute anders. Das Archiv «Schweizer Glocken» wird deshalb nicht mehr erweitert.

Aus einem Artikel des Schweizerischen Beobachters vom 21. Dezember 2001.