Ostschweiz: Kirchenglocken-Lärm ist die “CD der Jahrtausende” (10-05-2008)

Ostschweizer Glockenlärm ist die "CD der Jahrtausende"

Das Bundesamt für Kultur (BAK) bringt die "CD der Jahrtausende" : Die Ostschweiz als klingende Kulturlandschaft.

In St. Gallen läuteten am Donnerstagabend alle Glocken des St. Laurenzen-Turm. Ein Ehrensalut zur Feier des neuen Buches über die Glockenlandschaft der Schweiz. In dieser hat die Ostschweiz einen besonderen Platz.

«Es gibt wohl kaum ein Musikinstrument, dem so viele Sagen und Legenden, Werke der Dichtkunst und der Literatur gewidmet sind, wie der Glocke», schreibt Jean-Frédéric Jauslin, der Direktor des Bundesamtes für Kultur (BAK) im Vorwort des Buches; Geschichten, vom «Glöckner von Notre-Dame» bis zum «Munotglöggli».

Kirchenglocken sind keine Musikinstrumente: Metall schlägt auf Metall, fast immer komplett falsch gestimmt. Oft werden die teuren Glocken dermassen malträtiert dass sie langsam aber sicher zerstört werden. (Die Reparaturen bezahlen selbstverständlich meist die SteuerzahlerInnen!)

Grund für das denkmalpflegerische Interesse ist die Vielfalt von Bezügen, die mit dem Kulturgut Glocke verbunden sind. Sie umfassen religiöse, volkskundliche, technische, musikgeschichtliche Aspekte. Zudem sind die Glocken die einzigen Klänge, die heute genau so tönen, wie damals als sie entstanden waren. Sie sind die CD der Jahrtausende.

Die Kirchenglocken tönen leider heute nicht mehr so "wie damals als sie entstanden sind". Glocken wurden früher nämlich traditionell von Hand geschlagen. Und das auch nicht während der gesetzlich vorgeschriebenen Nachtruhe. Ferner waren die Glocken wesentlich kleiner und somit auch weniger laut als früher.

Dass das Buch am Donnerstagabend in St. Gallen vorgestellt wurde, hat sich nach dem Glockenexperten Hans Jürg Gnehm aufgedrängt. Die Ostschweiz gilt als besonders reiche Glockenlandschaft. So ziert die grosse Glocke des St. Galler Doms auch das Titelblatt, hat sie doch landesweit die tiefste Stimmung. Aus St. Gallen stammt zudem der älteste Klangkörper, das Gallusglöckchen, das der Wandermönch Gallus von Irland mitgebracht haben soll.

Die Ostschweiz gilt als besonders laute Glockenlandschaft:

"…Es war ein regelrechtes Wettrüsten, das Ende des 19. Jahrhunderts in der Ostschweiz begann.
«Mit der Industrialisierung und dem Reichtum kam der Wahn, die Türme mit den grösst- und schwerst-möglichen Glocken füllen zu müssen», sagt Matthias Walter (Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.)"

Ein Grund für den Ostschweizer Glockenreichtum liegt im fürstäbtischen Staat, der seine Herrschaft nicht mit Schlössern, sondern mit Gotteshäuseren dokumentierte. Dies wiederum stimulierte die reformierten Kirchen, sich ihrerseits mit würdigem Geläute vernehmen zu lassen.

Der Grund für den Ostschweizer Glockenlärm liegt in einem absolut unchristlichen Wettbewerbsdenken zwischen Katholischer und reformierter Kirche: Ein jahrzehntelanger Wettstreit spielte sich ab, entweder zwischen Gemeinden oder Konfessionen, manchmal sogar innerhalb derselben Gemeinde. Ergebnis des Glockenwettbewerbs: Heute erklingen nirgends auf der Welt so viele grosse Geläute wie in der Ostschweiz.

Das Buch rollt die ganze Kulturgeschichte der Glocke auf. Sie beginnt im alten China, führt zu den biblischen Instrumenten des Tempelkults, wird von den Kirchenvätern aufgegriffen und findet über sie den Eingang in die ersten christlichen Klöster und den Kirchenbau.

Das die Glocken im alten China erfunden wurden (also in einem ‘heidnischen’ Land!) ist bezeichnend: In manchen Kulturen wurde mittels Lärm gefoltert. Speziell im alten China gab es die Todesstrafe durch Lärm: Der Verurteilte wurde unter eine große Glocke gelegt, die der Henker schlug. Allerdings kam diese Art der Todesstrafe nur bei besonders schweren Vergehen zum Einsatz, "denn das ist der qualvollste Tod, den ein Mensch erleiden kann", hieß es im Gesetz.

Der Glockenlärm ist leider auch heute noch oft eine der qualvollsten Lärmbelästigungen während der gesetzlich vorgeschriebenen Nachtruhe!

CD der Jahrtausende – Artikel im Tagblatt.ch